Rathaus-Front-Herbst-2022

stadtbibliothek Nidda

André Hülsbömer im Literaturcafé

Etwa zur Regionalgeschichte: Dr. André Hülsbömer (Dauernheim) gab mit seinem Roman „Winterling. Ein Bauernleben in finsterer Zeit“ den Blick in das Oberhessen von 1670. So anschaulich ist dort die bäuerliche Lebenswelt von damals geschildert, dass es bei einer späteren Vorstellung des Romans im Literaturkreis der Stadtbibliothek zu lebhaften Diskussionen kam.

Zur Zeit des Romans lag das Ende des Dreissigjährigen Krieges immerhin zwei Jahrzehnte zurück. Also ein kleines Wirtschafswunder, „neues Leben aus Ruinen?“ „Nein, Friede, Sicherheit, Recht, Gesetz und schon gar Gerechtigkeit hatten sich noch nicht eingestellt“ schreibt der Autor im Nachwort. In einer Rückblende skizzierte er Kriegsereignisse: das Blutbad, das kroatische Söldner in Ortenberg anrichteten, ein Gemetzel in Bingenheim, wo sich Bewohner hinter die Mauern des befestigten Schlosses geflüchtet hatten und doch nicht sicher waren.

Foto von Dr. André Hülsböhmer

Solch extremen Gewaltexzesse haben 1670 aufgehört. Letzte Herbstarbeiten und der Speisezettel bäuerlicher Familien, Torf stechen und Entwässerung des schlammigen Innenhofs, Tuch färben und Hilfsdienste bei einer Prunkjagd des Adels – so sachkundig wie anschaulich fügt Hülsbömer Mosaiksteine des Lebensalltags zusammen. Aber noch immer stehen die Bauern jeden Herbst vor der Frage: „Reichen die Vorräte? Überleben wir mit unseren Kindern diesen Winter?“ Aus gutem Grund. Die Wetterveränderungen der „kleinen Eiszeit“ gefährden die Ernten. Eine streng hierarchisch gegliederte Gesellschaft bildet sich ab. Für die Bauern und Handwerker unten in der Pyramide gibt es keine Rechtssicherheit, von Außenseitergruppen wie den Juden ganz zu schweigen. Dieffenbach, der Schultheiß von Dauernheim, ist im Ort allmächtig – und korrupt. Als er nach dem Misserntejahr 1670 mit angeblich gestiegenen Abgabeforderungen des Landgrafen von Hessen-Bingenheim in die Häuser kommt, hat niemand das Recht, das nachzuprüfen. Für das Dorf sind die neuen Abgaben buchstäblich mörderisch, Familien werden schlichtweg verhungern. So kommt zum täglichen Überlebenskampf noch ein zweites Spannungsmoment des Romans: Wer setzt der Ausbeutung Grenzen – und wie?

Bei der Besprechung im Literaturkreis wurde auf Kontraste gesetzt und die Zuhörerinnen nahmen den schwarzen Humor der Gegenüberstellung sehr wohl wahr: „Sorgen“ hat nämlich zur selben Zeit auch die Landgräfin in Darmstadt. Entsetzlich – der grüne Brokat eines Prunkbetts, Geburtstagsgeschenk für ihren Mann, hat einen Graustich! Ist Hülsbömer da die Autorenfantasie durchgegangen? Nein, er hat eine Habilitationsschrift zu den Tagebüchern der hohen Dame ausgewertet, basierend auf Material des Staatsarchivs Darmstadt, und hat daraus die Handlung abgeleitet. „Volkswirtschaftliches“ Denken, etwa Investitionen in bessere Produkte, Verkehrswege, Absatzmärkte, liegt außerhalb der Vorstellung der Herrschenden. Die Landgrafschaft Hessen-Darmstadt ist genauso hoffnungslos verschuldet wie die für Dauernheim zuständige Bingenheimer Herrschaft. Beide Kleinherrscher haben die Prachtentfaltung des französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV. als Vorbild, aber ihre Länder sind von weit geringerer Wirtschaftskraft als Frankreich – da scheint nur der Druck nach unten zu bleiben…

Johann Henrich Edler, Bauer, Färber, Familienvater, die zentrale Figur des Romans, ist eine historische Gestalt, im Dauernheimer Kirchenarchiv nachgewiesen als erster Besitzer des Dauernheimer Auenlandhofes. Diesem Anwesen ist auch Hülsbömer verbunden. In verantwortungsvollen journalistischen Positionen arbeitete er lange für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. 2017 entschloss er sich zu einer rigorosen Lebenswende, beendete seine Tätigkeit für die F.A.Z.-Gruppe und kaufte mit seiner Frau Melanie in Dauernheim den Auenlandhof. Zu diesem Zeitpunkt war das Anwesen stark renovierungsbedürftig. Das Ehepaar sanierte, gab dem Hof neue Funktionen als Biergarten, Hofcafé und Seminarhof samt Eventgastronomie und Beherbergungsbetrieb mit heute 21 Betten. Die Bewirtschaftung eines kleinen Weinbergs, einer Destille und eines Jagdreviers gehört dazu.

Hülsböhmers Roman entstand erst nach aufwändiger historischer Recherche. Aber seine Anschaulichkeit bekommt er von einer anderen Erlebnisebene: „Ohne die alltäglichen Lebenserfahrungen hier im Ort, ohne die Arbeit auf unserem Hof hätte ich dieses Buch nicht schreiben können“ sagt Hülsbömer. Ein Kommentar aus dem Literaturkreis: „Das Buch hat düstere Abschnitte, aber es ist ein echtes Dauernheimer Heimatbuch!“